BAUSTELLEN ZUR WEIHNACHTSZEIT

baustellen zur weihnachtszeit - das lebkuchenhaus außer rand und band

von Dr. Cheryl Benard

 

Bei meinem letzten Wien Besuch im Spätherbst bestaunte ich in Geschäften und Supermärkten das expandierende Angebot von Weihnachtskalendern. In meiner Kindheit waren das flache Kartonblätter mit einem Bild vom Nikolo, oder Weihnachtsengeln, oder einem prachtvoll geschmückten Baum. Aufregend daran war die Verzierung mit Gold und Flitter. Die kleinen Türchen waren oft schwer aufzukriegen, und dahinter verbarg sich “nur” ein kleines Bild z.B. von einer Spielzeugtrommel oder eine Puppe. Die Tür am 24. war grösser und zeigte eine Krippenszene. Allmählich modernisierten sich die Motive, es kam Santa Claus dazu oder lustige Winterszenen mit Rodelhügeln. Nächste Innovation: Schokolade hinter den Türchen, mit einem besonders grossen Stück für den 24.

Und jetzt? Riesenapparate, hinter jedem Fenster ein Überraschungsei oder ein Spielzeug, und viele Varianten für Erwachsene, mit Tee, Kosmetikartikeln oder auch Alkoholfläschchen. Gerne hätte ich einige davon als Gesprächsstoff mit in die USA genommen, aber die Prachtexemplare waren zu gross für einen durchschnittlichen Koffer. Die alte Tradition hat sich jedenfalls an die Konsumgesellschaft anpassen und in ihr florieren können. Gleichzeitig sah ich, dass die alten “Vintage”-Kalender auch wieder da sind, vermutlich für Nostalgiker wie mich.

Vor ein paar Jahren erschien der Weihnachtskalender auch in den USA, aber ein richtiger Hit ist er nicht geworden, eher ein Ladenhüter. Hier hat dafür eine andere alte Tradition einen vergleichbaren Höhenflug in die Moderne erlebt: das Lebkuchenhaus.

Auf Englisch heisst Lebkuchen gingerbread: Ingwerbrot. Riecht gut und hat einen besonders würzigen Geschmack, aber neben Ingwer braucht man noch diverse nicht alltägliche Ingredienzen, und für ein Bastelprojekt muss es nicht nur gebacken sondern auch präzise bemessen und ausgeschnitten werden, sonst wird das Ergebnis schief oder bricht am Ende ganz in sich zusammen, Frust! Um es gebraucherfreundlicher zu machen, gab es zunächst Kits zu kaufen, in denen die bereits gebackenen und akkurat zurechtgeschnittenen Bestandteile mitsamt dem nötigen Zubehör – Zucker in kleinen Spritzbehältern als “Leim” und diverse Bonbons zur Verzierung – verpackt waren. Das fand Anklang, weil es eine nette Beschäftigung war für Kinder mit minimaler erforderlicher Aufsicht durch Eltern oder grosse Geschwister, und weil das Resultat als Weihnachtsdeko stolz ausgestellt werden konnte. Anfangs waren die Häuschen ziemlich standardisiert, höchstens mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad. Allmählich setzten Innovationen ein, und heuer dann die grosse Explosion der Fantasie. Es gibt jetzt Häuser in diversen Architekturstilen, vom Bauernhaus zum englischen Reihenhaus zum Vorort mid-century modern bis zum futuristischen Jetsons-Haus. Es gibt Wohnmobile und Strandhäuser und Sportstadien.

 

 

Aber woher stammt die Tradition? Die Bedeutung von Ingwer für die Gesundheit scheint zuerst in der chinesischen Medizin erkannt worden zu sein. Ingwer gilt als wärmend, stimulierend für die Verdauung und entzündungshemmend. Im Europa der Neuzeit beziehen sich die ersten Berichte über ein haltbares Ingwerbrot auf einen armenischen Mönch, der das Rezept angeblich im Jahr 992 an seine Ordensbrüder in Frankreich übermittelte. Im 13. Jahrhundert bildeten sich innerhalb der Bäckergilden Deutschlands Subgruppen die auf Lebkuchen spezialisiert waren, zunächst in Ulm und dann in Nürnberg. (Nürnberg lag an wichtigen Handelsstrassen und hatte dadurch Zugang zu den erforderlichen Gewürzen).

Deutsche Emigranten nahmen das Rezept mit nach Schweden, wo Lebkuchen alsbald in Klöstern von Nonnen als Digestivum hergestellt wurde.[1] In Deutschland war das Recht, Lebkuchen zu backen, auf Mitglieder der Gilden beschränkt. Ausnahme war die Weihnachtszeit – da durften es alle.

Traditionsgesinnte mögen entsetzt sein über die neuen kommerzialisierten Varianten des Lebkuchenhauses, aber Innovationen und modische Gags gab es seit jeher. Während der Regentschaft von Königin Elizabeth I. z.B. wurden Lebkuchenkekse bei Staatsbanketten serviert, angefertigt mit der Figur und dem Konterfei der jeweiligen Ehrengäste. Auf Märkten wurden Kekse verkauft in der Form von Soldaten, Reitern, Gewehren, Tieren oder auch einem königlichen Hochzeitspaar. Es war üblich, die harten Kekse in Wein zu tauchen und so zu konsumieren. Die militärischen Figuren entstanden infolge des Glaubens, dass eine solche Lebkuchenfigur einen Soldaten im Kampf magisch beschützen konnte.[2]

Das Rezept für gingerbread wurde von den englischen Siedlern nach Amerika mitgebracht. George Washingtons Mutter servierte es einem prominenten Dinner-Gast, dem Marquis de Lafayette, was sich herumsprach und dem Dessert vorübergehend den Namen “Gingerbread Lafayette” gab. (Dieser Marquis war eine interessante, definitiv Keks-würdige Persönlichkeit. Als Monarchie-kritischer französischer Adeliger schiffte er sich als 19-jähriger nach Amerika ein und bot sich den Unabhängigkeitskämpfern als Freiwilliger an. Seine militärische Grundausbildung machte ihn wertvoll und er wurde in den Stab von General Washington aufgenommen. Dort machte er sich gut und erhielt trotz seiner jungen Jahre einen Generalsrang und ein eigenes Kommando. Später sollte er auch in der Revolution seines Heimatlandes eine Rolle spielen. Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg hatte Sympathisanten in Europa, und auch wesentliche Persönlichkeiten aus Polen und Deutschland reisten an, um mitzuwirken.[3] Aber zurück zum Ingwer…)

Das Lebkuchenhaus geht, wie manche Historiker meinen, auf die Gebrüder Grimm Geschichte von Hänsel und Gretel und dem Hexenhaus aus essbaren Leckereien als Kinderfang, zurück. Andere stellen dies in Frage und meinen, dass die Grimms sich damit bloss auf eine bereits existierende Bäckerpraxis bezogen.

Und was halten wir, eine Organisation die sich dem Kulturerhalt widmet, von den aktuellen abenteuerlichen Auswüchsen des Lebkuchenhauses? Grellblauer Zuckerguss auf einem Strandhaus? Warum nicht? Traditionen leben durch ihre Veränderung, und was bleibt ist die essentielle Idee, aus einem ehrwürdigen alten Rezept und einer alten Kunstpraxis etwas aktuell Ansprechendes zu erzeugen. Und die Erweiterung der Seidenstrasse vom Alten China über Nürnberg bis Miami…

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